Auf der Südseite des Turms der Hüttenhausener Kirche ist in einiger Höhe eine seltsame Steinplastik eingemauert (Abbildung 1) und nicht wenige Kirchenbesucher werden sich schon gefragt haben, was es damit auf sich hat, was sie darstellt und wie sie dort hinaufgekommen ist.
Die Frage nach der Darstellung führt uns weit zurück in die Kirchengeschichte und in die christliche Ikonografie. Im Süden der Sinai-Halbinsel in Ägypten liegt eines der ältesten Klöster der Christenheit, das Katharinenkloster. In der Glaubenstradition ist der Gipfel des benachbarten Dschabal Musa jener Berg, auf dem Moses von Gott die Zehn Gebote empfing und an dessen Fuß sich der Brennende Dornbusch befand. Wegen seiner isolierten Lage in der Wüste ist das Katharinenkloster seit der Spätantike durchgehend bewohnt und nie zerstört worden. Es besitzt eine einzigartige Ikonensammlung mit Meisterwerken des 6. und 7. Jahrhunderts. Eines davon ist das Bild von Christus als Weltenherrscher, der segnende Christus Pantokrator (Abbildung 2). Das Motiv fand in der byzantinischen Kunst der griechisch- und russisch-orthodoxen Kirchen weite Verbreitung und im Mittelalter auch Eingang in viele westeuropäische Kirchen der Romanik. Oft sehen wir die Christusikone dort in der Wölbung der Apsis über dem Altar, als plastische Darstellung oft auch im Rundbogenfeld über dem Portal.
An der Kirche im nahen Tholbath ist ein solcher Türsturz, das Tympanon, noch in seiner ursprünglichen Lage zu sehen (Abbildung 3). Es zeigt Christus zwischen zwei ihm zugewandten Männern mit zum Segen erhobener Hand. Der Gestus des Pantokrators ist nahezu identisch mit dem in Hüttenhausen, so dass wir annehmen dürfen, dass auch die Plastik am Turm der Rest eines Tympanons ist, das einst den Eingang zur Kirche überspannte. Die Kirche in Tholbath bietet darüber hinaus grundsätzlich ein gutes Vergleichsobjekt für unsere Kirche. Aus allgemeinen bau- und kunsthistorischen Überlegungen heraus wird in der einschlägigen Literatur als Erbauungszeit die Romanik angegeben, das ist in etwa die Zeitspanne von 1000 bis 1250. Von St. Leonhard in Tholbath ist die Kirchenweihe um 1190 quellenmäßig belegt. Mit den beiden stilistisch eng verwandten Darstellungen des Pantokrators in den Tympana können wir nun auch für Hüttenhausen die Erbauungszeit auf die Jahre um 1190 eingrenzen.
Relativ einfach zu beantworten ist die Frage nach dem Bauherrn unserer Kirche. Wie bei der überwiegenden Zahl der Dorfkirchen fehlen auch in Hüttenhausen schriftliche Quellen zu den Auftraggebern. Aber die gesamte Kunst der Romanik war eine Kunst des grundbesitzenden Feudaladels. So stehen auch die Ortsadeligen von Hüttenhauen als Erbauer völlig außer Zweifel. Und wir wissen sogar noch, wo deren Ansitz lag. Im alten Wohnhaus auf dem Anwesen Im Winkel 7 hatten sich Reste ihrer Burg bis vor wenigen Jahrzehnten erhalten. Fotos aus den 1950-er Jahren zeigen noch zwei spätromanisch-frühgotische Doppelfenster (Abbildung 4). Diese hochwertigen Architekturmerkmale sind an einem einfachen Bauernhaus nicht vorstellbar.
Soweit zur Steinplastik selbst. Aber wie ist sie an ihren ungewöhnlichen Standort gelangt? Die Kirche hat zunächst sicher für eine lange, lange Zeit den Abforderungen der Dorfgemeinschaft genügt, so dass außer den üblichen Instandhaltungsarbeiten keine größeren, substanzverändernden Baumaßnahmen erforderlich waren. Im 30-jährigen Krieg schwappte eine verheerende Zerstörungswelle über das Land hinweg. Kirchen wurden geplündert, ein namhafter Teil der Bevölkerung verlor sein Leben. Hüttenhausen dürfte da keine Ausnahme gewesen sein. Es brauchte zwei, drei Generationen für eine spürbare wirtschaftliche Erholung und ein Wiederanwachsen der Einwohnerzahl. Um 1700 ist eine Grundsanierung der Kirche festzumachen. Um dem gestiegenen Platzbedarf Genüge zu tun, wurde das Kirchenschiff nach Westen hin um über fünf Meter verlängert. Die ausgewogenen romanischen Proportionen des Baukörpers gingen dabei verloren. Die Fenster wurden vergrößert, um dem barocken Architekturempfinden Rechnung zu tragen, das alte Portal musste weichen. Dabei hat man das Tympanon wohl irreparabel beschädigt. Aber den wichtigsten Teil davon, den segnenden Christus, wollte man wohl nicht einfach als Baumaterial wiederverwenden und hat ihn deshalb – weithin sichtbar – in luftiger Höhe am Turm angebracht.
Die barocke Baumaßnahme blieb selbstredend nicht die letzte. Und die vielen größeren und kleineren Arbeiten, die zum Erhalt der Kirche seither erforderlich waren, hier aufzulisten, wäre ermüdend. Aber zwei davon möchten wir doch in Erinnerung rufen, weil sie in der Kirche selbst je ein beredtes Zeugnis hinterlassen haben. Im Obergeschoss des Turms hat ein Handwerker die Jahreszahl 1828 und wohl seine Namensinitialen IH in den frischen Putz geritzt. Und 2014 hat der Mesner Gerhard Schneider zur Verlegung einer elektrischen Leitung ein Stück der Innenverkleidung der Emporenbrüstung abgenommen und dahinter ein Brett (Abbildung 5) gefunden, auf dem sich ein Maurer „verewigt“ hat. Friedrich Wirth Maurermeisterssohn aus Altmannstein war an diesen Bau / Kirchen Anbau im Jahre 1873 als Maurer beschäftigt. auch dessen Bruder / Adolph, so steht dort zu lesen.
Die Ritzung im Putz und die zwei Bleistiftzeilen auf dem Brett sind interessante Dokumente aus der langen Geschichte der Kirche. Die Steinplastik am Turm aber – so unscheinbar sie auch daherkommen mag – ist von ganz anderer Qualität, der Christus Pantokrator von Hüttenhausen ist ein Kunstdenkmal von Rang. Und der einschlägig Interessierte, der Freund romanischer Kunst und Architektur, weiß um seine Bedeutung, eine Bedeutung die weit über das beschauliche Hüttenhausen hinausreicht.